Interview mit Michael Müller und Marie Petzold (Deutsches Schauspielhaus Hamburg)

Dsc6635

Am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg findet in diesem Jahr ein neues theaterpädagogisches Projekt für Schüler*innen zum Thema Freiheit statt. Aufgrund der Corona-Krise muss es anders starten als geplant. Michael Müller und Marie Petzold berichten im Interview von ihren Plänen und Ideen für das Projekt. Beteiligt sind auch der Theaterpädagoge Frederik Lilje und der Autor Nils Mohl.

Lieber Micheal Müller, Ihr Theaterprojekt zum Thema „Freiheit“ bekommt durch die beschränkenden Maßnahmen, die wir seit März 2020 wegen des Corona-Virus erleben, eine ganz neue Aktualität. Ihre Idee für das Projekt „Grenzen überwinden – auf der Suche nach Freiheit“ stammt aus der Zeit davor. Welche Überlegungen waren ursprünglich ausschlaggebend?

Der Ausgangspunkt waren mehrere Impulse: Zum einen der politische Rechtsruck in der Welt und die Frage nach dem Wert von Freiheit und Demokratie, zum anderen der Aufbruch einer jungen Generation durch die Fridays For Future-Bewegung und sogar noch ein dritter Gedanke, die Frage des Strebens nach Freiheit in Zeiten der Unterdrückung.
Ich fragte mich, was es bedeutet, frei zu sein? Von was sind wir frei? Welche Art von Freiheit streben wir an? Ist dies persönlich, politisch, moralisch zu sehen? Kann jeder Mensch sich individuell entwickeln, wie es ja in unserer Demokratie suggeriert wird? Existiert ein Recht auf Freiheit? Viele begreifen Freiheit als die Abwesenheit von Furcht und von Zwängen. Freiheit meint vielmehr auch, sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen, eine eigene politische Stimme zu haben, sich Gehör zu verschaffen, den Diskurs zu suchen, sich zu wehren. Ferdinand Lassalle formulierte einmal sinngemäß, dass es die revolutionärste Tat bleibt und ist, immer das laut zu sagen, was ist.
In unserer Gesellschaft wird von rechten politischen Strömungen die Angst geschürt, dass wir etwas zu verlieren haben. Diese Strömungen können wir auf der ganzen Welt verfolgen, wo demokratisch gewählte Präsidenten die Rechte aushöhlen und zur Fassade werden lassen.
Hannah Arendt geht davon aus, dass mit der Geburt eines jeden Menschen, eines jeden Gedankens ein ebenso kleiner wie radikaler Neuanfang gemacht ist, aber unser Leben (graduell) immer in einer Knechtschaft mündet. Wer gibt sie uns, die Freiheit - und offenbar kann man sie uns auch wieder wegnehmen? Und wenn sie fehlt, warum kämpfen wir so erbittert um sie? Warum sind wir bereit, unser Leben für die Freiheit zu opfern? Kann man Freiheit erlernen? Oder sind wir doch dankbar, wenn man sie uns einfach abnimmt?

 

Liebe Marie Petzold, Sie leiten das Projekt am Deutschen Schauspielhaus und gehen mit der Corona-Situation kreativ um. Den Projektstart haben Sie aufgrund des Kontaktverbotes in den digitalen Raum verlegt. Gibt es auch unerwartete positive Impulse für den Prozess, die durch die Sondersituation entstanden sind?

Wir hätten gerne zu Beginn ein ganzes Wochenende zum Kennenlernen, Recherchieren, Texte schreiben und Theaterspielen nutzen wollen. Dies ging leider nicht, aber wir haben uns dafür an einem Freitag und dem darauffolgenden Sonntag per Videokonferenz verabredet und ausgetauscht. Ein Vorteil, der dadurch entstand, war die freie Zeiteinteilung der Teilnehmenden, um die Arbeitsaufträge kreativ anzugehen. So stand niemand unter dem Druck, sofort etwas produzieren zu müssen. Man merkt, dass die Jugendlichen hungrig sind auf kreativen Input. Einige haben sofort losgelegt, Texte geschrieben, kleine Hörspiele oder Videos produziert.Durch die aktuelle Situation haben alle auch einen individuellen Zugang zu unserem Thema. Wir haben erlebt wie weltweit Grundrechte erheblich eingeschränkt wurden, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Widerspruch gab und gibt es nur wenig. Gewählte Volksvertreter bitten uns, freiwillig zu verzichten, appellieren an unsere Vernunft und Solidargemeinschaft. Natürlich kann man sich fragen, wie gefährlich ist das eigentlich für unsere über Jahrhunderte hart erkämpften Freiheiten? Der Staat darf verbieten, verpflichten, ermächtigen, bestrafen. „Schützen" ist das Wort der Stunde. Sich schützen, andere schützen, durch Verzicht auf individuelle Rechte. Die Krise öffnet die Tür zur vermeintlichen Unfreiheit. Gerade einer jungen Generation wurde vermittelt, dass man alles sein, alles werden kann, überall zu jeder Zeit hinreisen kann und alles immer verfügbar ist. Diese Erfahrungen lassen wir in den Entstehungsprozess mit einfließen. Wir fragen uns, wie junge Menschen die Welt nach Corona sehen werden und wie sie dann die Gedanken der individuellen Freiheit beurteilen.

Vielen Dank für die Einblicke. Noch zwei letzte Fragen an Sie beide: Was erhoffen Sie sich von dem Projekt „Grenzen überwinden – auf der Suche nach Freiheit“ und welche Entwicklungen wünschen Sie sich zukünftig für die Theaterpädagogik in Deutschland?

Vom Projekt erhoffen wir uns einen offenen und kreativen Austausch zu einem Thema, das uns unerwartet nun alle persönlicher denn je berührt – Freiheit. Gemeinsam wollen wir mit den jungen Menschen Texte schreiben, Recherchieren und Szenen entwickeln. Dieser Prozess soll auf Augenhöhe stattfinden, alle Teilnehmer*innen sind eingeladen, aktiv und kreativ die Arbeit mitzugestalten. Die Altersspanne (12-18 Jahre) der Teilnehmenden haben wir bewusst weiter gefasst, um einen umfangreicheren Blick auf das Thema werfen zu können. Wir wollen verschiedene Spielformate ausprobieren und herausfinden, welches sich am besten für die Präsentation der Ergebnisse eignet. 
Für die Theaterpädagogik wünschen wir uns mehr Sichtbarkeit, Relevanz und finanzielle Ressourcen innerhalb der Institutionen. Wir leisten einen wichtigen Teil kultureller Arbeit, die weit über die Belange des Theaters hinausgeht, um Kindern und Jugendlichen die Begegnung mit den darstellenden Künsten zu ermöglichen, sie auf ihrem Weg ins Theater zu begleiten, Hemmschwellen abzubauen. Wir bieten zahlreiche Formate an, um sich spielerisch und kreativ auszudrücken. 
Der Austausch und die Vernetzung der Theaterpädagog:innen in Deutschland ist ein wichtiger Bestandteil der Weiterentwicklung unseres Berufsfeldes, diese soll weiter gestärkt werden. Und auch die Finanzierung von theaterpädagogischen Projekten ist essentiell, um noch mehr jungen Menschen, speziell aus sogenannten „bildungsfernen Schichten", einen Zugang zu kultureller Bildung zu ermöglichen. Die Vertical Stiftung leistet mit ihrem Engagement einen großen Beitrag zu dieser Entwicklung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Foto: Christian Bartsch für Deutsches Schauspielhaus Hamburg