Interview mit Christine Worch (Kulturistenhoch2)

Seit Anfang 2020 unterstützt die Vertical Stiftung die gemeinnützige Initiative Kulturistenhoch2 (KH2).  Christine Worch von der Stiftung Generationen-Zusammenhalt in Hamburg hat die Initiative ins Leben gerufen. KH2 bringt Menschen im Rentenalter mit Oberstufenschüler:innen zusammen. Zu zweit besuchen sie – so war es zumindest vor der Coronazeit – ein kulturelles Event. Schon auf der gemeinsamen Fahrt in Bus und Bahn zu einem Konzert oder einem Theaterbesuch lernen sich Personen kennen, die aufgrund ihres großen Altersunterschieds selten Berührungspunkte haben. Diese Begegnungen wirken für Jung und Alt verbindend, da jede:r Einblicke in die Lebenswelt des anderen erhält. Für ältere Menschen, deren Rente oftmals schmal ausfällt, ist die kulturelle Veranstaltung mit jugendlicher Begleitung eine willkommene Abwechslung und die Schülerinnen und Schüler profitieren davon, dass die ältere Generation Lebenserfahrung mit ihnen teilt. Im Herbst startete die Initiative ihr neues Projekt „KH2-biografisch“.  Auf Kulturspaziergängen interviewen Schüler:innen Senior:innen, über die Bedeutung von Kunst und Kultur in ihrem Leben. Aus diesen Gesprächen soll ein Buch entstehen. KH2-Geschäftsführerin Christine Worch erklärt im Interview den Hintergrund der gemeinnützigen Initiative und geht genauer auf das neue Buchprojekt ein.

Liebe Frau Worch, Ihre Initiative verbindet Menschen unterschiedlichen Alters, baut Brücken und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe im Alter. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Als ich 2013/14 für unseren heutigen Kooperationspartner, die Kultur-Teilhabe-Organisation KulturLeben Hamburg e.V., als Beraterin tätig war, bemerkten wir, dass ältere Menschen die angebotenen gespendeten Kulturkarten häufig ablehnen mussten. Weil sie alleine lebten, teilweise körperlich eingeschränkt waren, niemanden mehr hatten und deswegen dann nicht zum Veranstaltungsort gelangen konnten, sagten sie ein kostenloses schönes Angebot ab. Soziale und kulturelle Teilhabe war für diese Menschen damit unmöglich! Das wollte ich gemeinsam mit KulturLeben ändern. Die Idee war es, die Jugend einzubinden, weil die Überalterung unserer Gesellschaft uns alle angeht. Die Schülerinnen und Schüler eben auch. Über ein Jahr lang habe ich „Feldforschung“ betrieben, mit Hamburger Schulvertreter:innen gesprochen, mit Gerontolog:innen,  Senior:innen und natürlich immer wieder mit KulturLeben. Schnell wurde deutlich, dass dieses Vorhaben dann doch als eigenständige Initiative in einem größeren Rahmen konzipiert werden musste. So gründete ich für KULTURISTENHOCH2 eine gUG. Heute ist die Stiftung Generationen-Zusammenhalt Trägerin der Initiative.

Bitte erklären Sie uns, was ein Alterssimulationsanzug ist.

Dieser Anzug, eigentlich GERontologischer Testanzug (GERT) genannt, besteht aus  einem Satz einzelner Kompo­nenten wie Gewichten an den Hand- und Fußgelenken, Bandagen zur Simulation von Gelenkversteifungen, Brillen und Schallschutz zur Demonstration typischer altersbedingter Seh- und  Hör-Einschränkungen u.v.m. sowie einer 25-Kilogramm schweren Weste, die den allgemeinen Kraftverlust im Alter simuliert. Durch das Zusammen­wirken beim Tragen all dieser Komponenten kann ein Effekt erzielt werden, welcher den Einschrän­kungen der sensomotorischen Fähig­keiten im Alter äußerst nah kommt. Insbesondere der alters­bedingte Gang, das veränderte Seh- und Greif­vermögen und der allgemeine Kraftverlust werden mit dem Alters­simulations­anzug realistisch nach­gebildet.
Bei KULTURISTENHOCH2 nutzen wir den Anzug, um alle teilnehmenden Jugendlichen auf ihre Begleitungen von älteren Menschen bestmöglich vorzubereiten. Wer GERT aus­probiert hat, versteht die Verhaltens­weise älterer Menschen besser, entwickelt Empathie für das Alter und wird auf infrastrukturelle Mängel aufmerksam, die den Älteren (und Menschen mit Behinderung) in unserer Gesellschaft die Teilhabe erschweren. Nach dem fünfstündigen Praxistraining sind die Schüler:innen zunächst sehr erschöpft. Sie berichten uns in der Evaluation des Erlebten, wie sehr sie Mitgefühl antizipieren, nochmals mehr motiviert sind, zu helfen und nach wirksamen Lösungen für Missstände, z.B. im Bereich der Barrierefreiheit, suchen.  

Die Vertical Stiftung fördert ab Herbst 2020 Ihr neues Buchprojekt „KH2biografisch“. Sogenannte „Kultur-Treffen zu Zweit“ zwischen Jung und Alt finden an geschützten Orten statt. Gespräche über die autobiografische Bedeutung von Kunst und Kultur ermöglichen beiden Generationen Austausch und Begegnung auf ganz neue Weise – aus dem Fundus dieser Geschichten wird ein Buch entstehen. Wie genau haben Sie sich den Ablauf vorgestellt und was erwarten Sie davon für Effekte (auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene)?

KH2biografisch stärkt die Kultur der gegenseitigen Wertschätzung und schafft einen Anlass, sich über die Generationen hinweg thematisch und persönlich zu begegnen. Das Projekt richtet die Möglichkeit ein, eine einzigartige Erfahrung machen zu können, die im Alltag sonst gar nicht üblich ist. 
Alt und Jung verabreden sich zum narrativen Interview, das per Sprachrekorder aufgezeichnet und später transkribiert wird. Die Jugendlichen stellen den Senior:innen Fragen und schauen gemeinsam mit ihnen auf ihr jeweiliges Leben mit – oder auch ohne Kunst und Kultur. Daraus entsteht ein Gespräch – im besten Fall eines, das zu einer spannenden Geschichte taugt, die eine von uns engagierte Autorin unter Mitwirkung des jeweiligen Jugendlichen schreiben wird. Das Ergebnis legt der oder die Jugendliche dem älteren Menschen vor und dieser kann es prüfen (und wenn gewünscht) Änderungen vornehmen. 
Die Senior:innen werden durch dieses Projektangebot in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt, indem sie ihre Lebenserfahrung weitergeben können und Anerkennung finden. 
Die Schüler:innen unterstützen dabei als „Interviewer und Chronisten“, denn wir schulen sie vorab durch eine erfahrene Journalistin. So werden die Jugendlichen als Expert:innen wahrgenommen. Die Schülerinnen und Schüler machen Erfahrungen mit Interviews als kommunikative Technik, die sie in der weiterführenden Bildung und im Beruf gut gebrauchen können. 
Beiden Generationen wird die Wirkung von Kunst und Kultur ins Bewusstsein geführt. Durch das Reden im Interview-Kontext wird eine Reflexion angeregt, die für alle Beteiligten den Wert von Kunst und Kultur verdeutlicht.
Das mag gerade jetzt, da deutlich wird, wie stark das kulturelle Leben durch die Pandemie in ihren Grundfesten bedroht ist, den jungen wie alten Menschen vor Augen führen, dass Kunst und Kultur gesellschaftlich relevante Lebensbereiche sind. 
Die Solidarität mit Kunst- und Kulturschaffenden, die zur Zeit absolut existentiell bedroht sind, steigt und erinnert beide Seiten daran, dass sie sich über das Prekäre und durch Kunst und Kultur als Bindeglied überhaupt erst begegnen konnten. 
KH2biografisch fördert – wie das Mutter-Projekt – das Verständnis der Generationen untereinander, macht Lust auf Kontakt und gemeinsame Aktivitäten und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

  Vielen Dank für das Gespräch!